Im Streit um den Rechtsstaatsmechanismus erhöht die EU den Druck: Entweder, Polen und Ungarn lassen ihr Veto gegen den nächsten EU-Haushalt fallen, oder die anderen 25 Länder werden den Corona-Wiederaufbaufonds ohne sie auflegen. Klare Zeichen des Einlenkens wollen EU-Vertreter dabei noch vor dem EU-Gipfel am Donnerstag sehen. Für Kommentatoren hat das Kräftemessen enorme Tragweite.
DE VOLKSKRANT: Es geht um Europas Legitimität Hier geht es um wesentlich
mehr als Finanzen, appelliert Volkskrant-Kolumnistin Sheila Sitalsing in
der niederländischen linksliberalen Tageszeitung:
„Geld steht auf dem
Spiel. Der komplette EU-Haushalt für die kommenden Jahre und der
Corona-Wiederaufbaufonds von 750 Milliarden Euro drohen abgelehnt zu
werden - bei einem No Deal mit den Scheindemokratien, die vor 16 Jahren
so liebevoll in die Europäische Union aufgenommen wurden. Eine
'finanzielle Katastrophe' wird hier und da gesagt. Aber katastrophaler
wäre es, wenn die EU-Mitgliedsstaaten wieder in die Knie gehen. Sich
vorführen lassen von den Großmäulern in Europa. Dann lieber kein
Corona-Fonds, kein Haushalt. Hart bleiben. Eine EU, die sich von den
Scheindemokratien ein Bein stellen lässt, verliert jede Legitimität.“
FINANCIAL TIMES: Viel dramatischer als der Brexit Es darf keinen faulen Kompromiss mit Warschau und Budapest geben, warnt auch die wirtschaftsliberale britische Tageszeitung: „Das
Vorhaben, die künftige EU-Finanzierung an den Respekt der
Rechtsstaatlichkeit zu binden, ist möglicherweise die letzte Gelegenheit
für Brüssel, Druck auf die polnische und die ungarische Regierung
auszuüben. Scheitern diese Bemühungen, muss die EU möglicherweise
anerkennen, dass ihr Anspruch, ein Club von Demokratien zu sein, die auf
grundrechtlichen Prinzipien basieren, jegliche Glaubwürdigkeit verloren
hat. Dieses Scheitern wäre umso ärgerlicher, als dass die Polen und die
Ungarn weiterhin großzügige Mittel aus dem EU-Haushalt erhalten würden.
Die richtige Reaktion der EU auf die ungarische und polnische Frage ist
letztendlich entscheidender als das Thema Brexit.“
Süddeutsche
Zeitung: Polen und Ungarn zum Nachrechnen bringen Die EU-Staaten müssen
ihren Worten auch Taten folgen lassen, meint die linksliberale
Tageszeitung:
„Es ist möglich, den Wiederaufbaufonds ohne Polen und
Ungarn auf den Weg zu bringen. Vor allem Polen würde dieses Geld
schmerzlich fehlen. Unter einem EU-Nothaushalt würden beide Länder
leiden, ohne den Rechtsstaatsmechanismus verhindern zu können. Je
glaubwürdiger also der Druck, desto schärfer werden Polen und Ungarn
nachrechnen müssen, ob sie auf Kosten ihrer eigenen Bevölkerung den
Preis für ihr Veto wirklich zu zahlen bereit sind. Mit einem
Formelkompromiss wird Angela Merkel ihre europapolitische Karriere nicht
beenden können.“
POLITYKA: Orbán ist die harte Nuss Polens
linksliberales Magazin glaubt, dass Polen eher einlenken wird als
Ungarn:
„Bei vertraulichen Gesprächen zwischen Berlin, Warschau und
Budapest stellt sich immer noch die zentrale Frage, ob Viktor Orbán
hauptsächlich von ideologischen Vergeltungsmaßnahmen getrieben wird
(dann ist das Veto wohl kaum zu vermeiden) oder ob er vor allem nach
Wegen sucht, um Konsequenzen im Falle des Betrugs mit EU-Geldern zu
vermeiden. Polen gilt als weniger hart zu knacken. Das Projekt 'Geld
gegen Rechtsstaatlichkeit' in seiner jetzigen Form wäre für die
PiS-Regierung aufgrund der recht korrekten Verwaltung der EU-Mittel in
unserem Land machbar.“
Hospodářské Noviny: Nächstes Mal könnte es
Tschechien erwischen Tschechiens hat bislang konsequent die Haltung der
EU unterstützt. Julie Hrstková, Kommentatorin der wirtschaftsliberalen
Tageszeitung, schert nun aus:
„Ja, Polen und Ungarn haben einen Weg
eingeschlagen, der wenig mit dem europäischen Konzept von Unabhängigkeit
und Gerechtigkeit zu tun hat. Wenn wir aber den Ausschluss zweier
Länder aus dem Hilfsfonds akzeptieren, dann akzeptieren wir auch ein
Europa der zwei Geschwindigkeiten oder den Ausschluss von Ländern aus
der EU ganz allgemein. ... Unabhängig davon, was wir privat über die
Ausrichtung unserer Visegrád-Nachbarn denken, sollten wir sie aus
pragmatischen Gründen eigentlich unterstützen. Heute reden wir über
einen Plan für 25, ohne Polen und Ungarn. Beim nächsten Mal könnte es
aus irgendeinem Grund auch Tschechien betreffen. Das ist keine
verlockende Perspektive.“
Quelle: eurotopics Presseschau/bpb/ds/08.12.2020
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