Im Streit um den geplanten EU-Rechtsstaatsmechanismus hat Deutschland mit Ungarn und Polen einen Kompromiss ausgehandelt. Demnach soll eine Zusatzerklärung zum Mechanismus betonen, dass die "nationale Identität" der Staaten respektiert werde, was Viktor Orbán bereits als "Sieg" interpretierte. Damit wäre der Weg für EU-Haushalt und Corona-Hilfsfonds frei. Dennoch sind Beobachter wenig begeistert.
La Repubblica: Gefährlich wird's, wenn sie bleiben! Wie kann man
sich nur so erpressen lassen?, wettert der Historiker und Publizist
Timothy Garton Ash in Italiens linksliberaler Tageszeitung:
„Drohen
Ungexit oder Polexit? Nicht im Traum. Warum sollten sie so etwas Dummes
tun? ... Nein, die unmittelbare Gefahr für die EU besteht nicht darin,
dass Ungarn und Polen Großbritannien vor die Tür folgen, sondern dass
sie weiterhin Vollmitglieder des Clubs bleiben und fröhlich fortfahren,
gegen seine wichtigsten Regeln verstoßen. Es ist schwierig zu sagen, was
aktuell die größte Gefahr für die Zukunft der Europäischen Union
darstellt: das demokratische Großbritannien, das austritt, oder das
undemokratische Ungarn, das bleibt.“
Mérce: Pseudosieg für
Warschau und Budapest Orbán und Morawiecki können jetzt mit
Zugeständnissen in der Einwanderungs- und Familienpolitik prahlen,
obwohl diese mit dem Mechanismus eigentlich gar nichts zu tun haben,
bedauert Ungarns regierungskritisches Onlineportal:
„Beim
Rechtsstaatlichkeitsmechanismus ging es von Anfang an ausschließlich um
Dinge wie die Unabhängigkeit der Justiz, die externe Kontrolle der
Verwendung von EU-Fördergeldern und die staatliche Korruption in Polen
und Ungarn. ... Im geplanten 'Handbuch' zum Mechanismus soll nun
ausdrücklich drinstehen, dass es bei den Verfahren nicht um
'Gendertheorie', um Fragen des Familienrechts oder um die
Einwanderungspolitik gehen darf. ... Diese Themen hatte der Text nie
erwähnt. Doch jetzt wird es ein Leichtes sein, den Eindruck zu
vermitteln, dass es ursprünglich auch darum gehen sollte, Orbán und sein
Umfeld jedoch 'gewonnen' hätten.“
GAZETA WYBORCZA: Der Anti-EU-Geist
ist aus der Flasche. Unabhängig vom Ausgang des Streits hat sich der
Diskurs in Polen verschoben, befürchtet Polens linksliberale
Tageszeitung:
„Obwohl man im herrschenden Lager unterschiedliche Töne
hören kann, ist der dominierende Eindruck, dass die EU uns politisch,
kulturell, moralisch und sozial bedroht: Die EU erpresse uns; die Nation
werde 'auf dem Weg zum europäischen Staat' ertrinken; Polen werde zur
Kolonie und die Polen gehorsame Diener stärkerer Länder. ... In Texten
über die EU häuft sich ein abwertender Ton, und selbst wenn es in
Brüssel zu einem Kompromiss kommt, sammelt sich all dies an und
vergiftet die Gedanken der Bürger. ... Die kranke Diskussion über den
Polexit hat nun begonnen, und selbst wenn sie nur ein taktischer Schritt
ist, befreit sie die Anti-EU-Dämonen – ähnlich wie beim Brexit.“
Quelle: eurotopics Presseschau/bpb/ds/10.12.2020
|