Nach dem Urteil gegen Alexei Nawalny und den Verhaftungen von Tausenden meist friedlichen Demonstranten im ganzen Land machen sich Kommentatoren Gedanken, wie es in Russland weitergehen wird. Einige halten die Proteste für wenig wirksam und fürchten das endgültige Abgleiten in eine Diktatur. Andere sehen das Ende von Putins Macht nahen.
POLITYKA: Volksdiener-Image beschädigt.
Warum Nawalny für Putin so
gefährlich ist, erklärt Polens liberales Magazin:
„Putin galt als
tapferer Dienstoffizier, der gegen die Oligarchie kämpft. ... Menschen,
die über Demokratie, Menschenrechte, die Schrecken der Kriege in
Tschetschenien und in der Ukraine sprachen, galten als 'Verräter der
Nation'. Putins Beliebtheit blieb unerschütterlich. ... Dann kam
Nawalny. Er zeigte, dass man keine Zeitungen, kein Fernsehen und Radio
braucht, um mit den Russen zu sprechen. Alles, was man braucht, ist
Wlan. Nawalny war nie hungrig nach Geld und Privilegien. Er wurde nicht
bestochen, er machte keine Deals, wie viele Aktivisten der alten
Opposition. Er ließ sich nicht einschüchtern, obwohl er und seine Leute
geschlagen und eingesperrt wurden.“
Nowaja Gaseta: Präsident muss zum
Reformer werden. Der Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew rät
dem russischen Präsidenten in der regierungsnahen Tageszeitung zu einem
Strategiewechsel:
„Mit wachsendem punktuellen Terror kann die aktuelle
Situation noch für Jahre gehalten werden. Der Kreml kann die Erregung
aber auch dämpfen, in dem er einen politischen Kurswechsel einleitet und
einen Teil der führenden Köpfe austauscht, um einen neuen sozialen
Konsens bei wirtschaftlicher Beschleunigung zu erreichen. ... Putins
formal bestehende Möglichkeit, noch fast zehn Jahre an den Hebeln der
Macht zu bleiben, eröffnet ihm die Chance einer gelenkten Transformation
des politischen Systems, einer Aufspaltung der wirtschaftlichen und
administrativen Funktionen der Elite, einer Festigung des Rechtsstaat
und einer Abgrenzung der Kompetenzen der einzelnen Staatsgewalten. “
Kauno
diena: Die Wahlstrategien stehen schon fest. Die im September
anstehenden Parlamentswahlen sind eine Chance für die
Demokratiebewegung, glaubt Litauens liberale Tageszeitung: „Die
Opposition sollte ihre Strategie 'Kluge Abstimmung' nutzen, welche schon
bei den Kommunalwahlen ausprobiert wurde. Deren Hauptidee ist, dass
keine Stimme an Putins Partei Einiges Russland geht [indem Wähler
informiert werden, welcher Oppositionskandidat die besten Chancen hat].
Der Kreml wird den leichtesten Weg gehen und seine Propaganda-Artillerie
einsetzen, sich als um den einfachen Bürger besorgt darstellen. Doch
für beide Seiten gibt es Hindernisse. Die Opposition muss den Bürgern
erklären, wen von den Kreml-Rivalen sie wählen sollen – diese Aufgabe
hatte bislang der beneidenswert charismatische Nawalny übernommen. Der
Kreml muss einen potentiellen neuen (vorübergehend Nawalny vertretenden)
Oppositionsführer fürchten. ... Und neue Dokus über Putin.“
LE
SOIR: Diplomatie aufrecht erhalten. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell
reist am heutigen Freitag nach Moskau. Es ist der erste Russland-Besuch
eines Hohen Vertreters der EU seit vier Jahren. Borell kommentiert seine
diplomatische Mission in Belgiens liberaler Tageszeitung:
„Die
Beziehungen zwischen der EU und Russland haben sich im letzten Jahrzehnt
verschlechtert und sind von mangelndem Vertrauen geprägt. ... Wir sehen
uns heute grundsätzlich als Rivalen und Konkurrenten, nicht als
Partner. ... Diplomatie ist gerade dann unerlässlich, wenn es schlecht
läuft. ... In den 1990er Jahren träumten wir von einem anderen Europa,
in dem wir uns alle gemeinsam den globalen Herausforderungen stellen
würden. Im Jahr 2021 entsprechen diese Träume leider nicht der Realität.
Aber sie müssen uns weiterhin inspirieren und wir müssen daran
arbeiten, sie zu verwirklichen.“
Quelle:eurotopics Presseschau/bpb/ds/05.02.2021
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