Nach dem Rückzug der Türkei aus dem Europarats-Abkommen gegen Gewalt an Frauen üben Politiker und Menschenrechtsorganisationen in und außerhalb der Türkei heftige Kritik. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell forderte Ankara auf, den Beschluss zurückzunehmen: Der Austritt aus der Konvention von 2011 sende eine gefährliche Botschaft an die Welt. Auch Europas Presse ist konsterniert.
La Stampa:
Warschau wird es gefallen.
Auch in der EU ist die Konvention nicht in
allen Ländern unbestritten, wirft Italiens liberale Tageszeitung ein:
„Warschauer Konvention. So würden polnische Konservative gern einen
neuen Vertrag nennen, der die Istanbul-Konvention 'deutlich verbessere'.
... Die Regierung behauptet, die Hauptursache für häusliche Gewalt sei
nicht die strukturelle Ungleichheit zwischen Männern und Frauen (die
Prämisse der Konvention), sondern die 'Gender-Ideologie' und die
Auflösung traditioneller Ehen. ... Sollte Polen aus der
Istanbul-Konvention austreten, wäre der nächste Schritt die Schaffung
einer regionalen Allianz in Mittel- und Osteuropa, die die Rechte von
Frauen und LGBT-Menschen in der EU weiter einschränken könnte. … Nun
richten sich alle Augen auf die Länder, die die Istanbul-Konvention
nicht ratifiziert haben, darunter Bulgarien, Ungarn, die Slowakei,
Tschechien, Lettland und Litauen.“
Tages-Anzeiger: Abschied aus der
westlichen Wertegemeinschaft. Für die linksliberale Schweizer
Tageszeitung ist der Schritt Ankaras ein zweifaches Debakel:
„Einmal für
die Sache der Frauen in der Türkei. Und zum Zweiten für das ganze Land,
das sich nun vollends aus der ohnehin immer fragileren
Wertegemeinschaft mit Europa und den USA verabschiedet. ... Weder
angebliche kulturelle Eigenheiten noch vermeintlich islamisch-religiöse
Vorgaben können diesen Schlag ins Gesicht der modernen türkischen Frau
rechtfertigen. Sie soll sich als das begreifen, was sie in den Augen
beinharter Islamisten und ewiggestriger Traditionalisten immer war und
für immer bleiben soll: Mensch und Bürgerin zweiter Wahl.“
Frankfurter
Rundschau: Aufruf zu Gewalt und Mord. Die Publizistin Bascha Mika zeigt
sich in der linksliberalen Tageszeitung entsetzt:
„Schlagt sie!
Vergewaltigt sie! Tötet sie! Warum hat der türkische Präsident Erdoğan
nicht gleich mit einer Werbekampagne zur Gewalt gegen Mädchen und Frauen
aufgerufen? Hätte sich das im Kern von seiner Kündigung des
Istanbul-Abkommens unterschieden? Wer die Konvention gegen Gewalt an
Mädchen und Frauen verlässt, leugnet deren Recht auf Leben und
Unversehrtheit. Erdoğans Schritt wird all die aggressionsgeladenen
Väter, Ehemänner und Brüder nochmal ermuntern, patriarchalen
Machtanspruch und Gewaltfantasien auszutoben. Bis zur Liquidierung der
Opfer. Konsequenzen? Müssen die Täter in Zukunft noch weniger fürchten
als bisher.“
Quelle: eurotopics Presseschau/bpb/ds/22.03.2021
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