Home Geschichte & Kultur Auschwitz: Was tun gegen das Vergessen?
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Auschwitz: Was tun gegen das Vergessen? |
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Vor 75 Jahren erreichte die Rote Armee das deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Am heutigen Jahrestag erinnern etwa 200 Holocaust-Überlebende und viele Politiker in der Gedenkstätte in Polen an die Befreiung. Am Donnerstag fand bereits in Israel eine Gedenkfeier statt. Viele Autoren beschäftigt der Gedanke, wie die Erinnerung an die Schoah auch heute noch wach gehalten werden kann.
Liberation: Das Böse ist Teil der menschlichen Natur. Frans
Timmermans, Vize-Vorsitzender der EU Kommission, erklärt in Frankreichs
linksliberaler Tageszeitung, warum das Gedenken so wichtig ist:
„Wenn
wir uns ebenso der Größe wie der Perversität des menschlichen Geists
bewusst sind, verstehen wir erst wirklich die menschliche Natur und
haben vielleicht eine Chance, unsere Dämonen zum Schweigen zu bringen.
... Der Holocaust ist ein einmaliges Ereignis in der europäischen
Geschichte. Die Mechanismen, die ihn möglich gemacht haben, sind aber
absolut nicht einzigartig, sie sind Teil der menschlichen Natur. Die
Menschheit, und besonders die Europäer, haben die permanente
Verpflichtung, sich dessen bewusst zu sein und das Bewusstsein dieser
Dualität an künftige Generationen zu vermitteln.“
Neue Zürcher Zeitung: Empathie nicht verlernen. Die Erinnerung an die Schoah muss jederzeit wach gehalten werden, mahnt die liberal-konservatie Zeitung:
„Man
muss nicht selber in Auschwitz gewesen sein, um das Entsetzen und die
Trauer zu lernen. Was man über das Schlimmste aller
Menschheitsverbrechen erfahren kann, ist überall verfügbar. Jeder
denkende und mitfühlende Mensch wird früher oder später darauf stossen.
Es braucht Wissen und Konzentration, aber vor allem Empathie und
Phantasie - und in ihrer Pflege und ihrer Bewahrung ist es, wo die
Gesellschaft ansetzen muss, um moralisch wach und politisch klug zu
bleiben. So sehr uns die digitale Welt mit ihrem Universum des
Vorformatierten und Vorverdauten das Leben erleichtert, so sehr lässt
sie den Muskel der Einfühlung in andere und der eigenen
Vorstellungskraft erschlaffen.“
Die Presse: Vorbote des
demokratischen VerfallsAntisemitismus wird viel zu lasch
entgegengetreten, klagt die frühere spanische Außenministerin Ana de
Palacio in Öesterreichs liberal-konservativer Tageszeitung:
„Erwähnungen
von Antisemitismus werden oft mit einem Achselzucken abgetan oder sogar
auf zynische Art und Weise rationalisiert. Empörung oder Solidarität
mangelt es an Tiefe, und Diskussionen werden von Auseinandersetzungen
über die israelische - oder sogar die US-amerikanische - Politik
überlagert. ... Zwei Gründe für diese schwache Reaktion verdienen
besondere Aufmerksamkeit. Der erste ist das Verblassen der Erinnerung.
Die Geschichte des Antisemitismus in Europa ist fast so alt wie Europa
selbst. ... Der zweite Grund ist die allgemeine Aushöhlung
demokratischer Prinzipien und Institutionen. ... Wenn wir uns nicht
darauf einigen können, dass Antisemitismus in unseren Gesellschaften
keinen Platz hat, worauf können wir uns dann einigen?“
DNES: Unwürdiges Fingerhakeln über den Gräbern. Völlig
unbegreiflich findet Šimon Krbec vom Studienzentrum des Genozids
Terezín (Theresienstadt) in Tchechiens liberaler Tageszeitung die
Zerstrittenheit über das Gedenken an die Befreiung von Auschwitz vor 75
Jahren:
„Die politischen Vertreter von Ländern, deren
Bürger während des Holocausts starben, beschuldigen sich gegenseitig,
die Geschichte zu fälschen, der Kollaboration mit den Nazis und am Ende
gar eines Anteils am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. In Europa macht
sich eine gefährliche Tendenz der selektiven Wahrnehmung der Geschichte
breit. ... Das Theater darüber, wer wen einlädt oder nicht einlädt, ist
unwürdig. Wer sonst muss darüber regelrechte Freude empfinden, als der,
der sich wünscht, dass der Holocaust ein für allemal vergessen wird?“
Mark Rutte: Niederlande bitten Juden um Verzeihung. Der
niederländische Premier Mark Rutte hat während der nationalen
Holocaust-Gedenkveranstaltung am Sonntag erstmals offiziell für das
Verhalten des Staats gegenüber den Juden im Zweiten Weltkrieg um
Entschuldigung gebeten. Beamte hätten zu wenig getan, um jüdische
Mitbürger vor Verfolgung zu schützen. Niederländische Medien
beschäftigen sich damit, warum diese Entschuldigung erst jetzt kommt.
De Volkskrant: Historisches Eingeständnis. De linksliberale niederländische Tageszeitung würdigt Ruttes Worte als historische Wende:
„Die Opferrolle stand zu lange der Anerkennung von Kollaboration und
Mitschuld im Weg. ... Ob es um die Sklaverei-Vergangenheit geht, den
Kolonialismus oder den Krieg in Indonesien: Immer kommt die
Selbstbefragung nur stockend in Gang und bleiben die Entschuldigungen
aus. ... Auch vor diesem Hintergrund sind die reuevollen Worte von Rutte
historisch: Sie markieren eine zunehmende Bereitschaft, Fehler
anzuerkennen. ... Dass die erste Entschuldigung die Schoah betrifft, ist
allerdings eine historische Notwendigkeit. Von allen Katastrophen war
die Schoah zweifellos die zerstörerischste.“
NRC Handelsblad: Land der schuldigen Zuschauer. Hollands liberale Tageszeitung verweist auf den Wandel des historischen Selbstbildes:
„Im Laufe der Jahrzehnte wurde die niederländische Scham über den
Holocaust immer größer. Vor allem, nachdem in den 1970er Jahren
internationale Studien über die Judenverfolgung zeigten, dass die
Deportation von den 102.000 niederländischen Juden während des Zweiten
Weltkriegs außergewöhnlich glatt verlaufen war, veränderte sich das
Selbstbild der Niederlande. An die Stelle des Bildes der Niederlande als
Widerstandsland trat das vom einzigen westeuropäischen, von
Nazi-Deutschland besetzten Land, von dem drei Viertel der jüdischen
Bevölkerung ermordet wurden. ... So wurde aus den Niederlanden ein Land
der 'schuldigen Zuschauer'.“
Quelle: eurotopics Presseschau/bpb/ds/27.01.2020 |
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